Es gibt Schülerinnen und Schüler, die arbeiten verlässlich und ausdauernd vor sich hin. Andere tun sich schwer damit. Homeoffice, Homeschooling, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, die Familie ist in der Coronakrise gewaltig unter Druck. Dabei hat sie gute Chancen die verordnete Pause für sich selbst zu nutzen.

Obwohl sich in heutiger Zeit ganz unterschiedliche Sozialverbände unter dem Oberbegriff Familie einreihen und die Kernfamilie häufig um ihren Bestand kämpfen muss, hat sie für die meisten Menschen nicht an Bedeutung verloren. Krisengeschüttelt und von Anfeindungen unterschiedlicher Art in die Enge getrieben, musste sie sich immer neuen Veränderungen und Herausforderungen stellen. So auch in Zeiten der Pandemie im Jahre 2020.
Standen zur Zeit der Großfamilie vor der industriellen Revolution Hunger, Krankheit, Flucht, die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit oder hemmungslose Gewalt auf der Tagesordnung, so sieht sich die Kleinfamilie moderner Prägung vorrangig mit den sozial-ökonomischen Herausforderungen eines zunehmend unübersichtlicheren Alltagswelt konfrontiert.
Die Nachkriegsjahre gelten hierzulande als Blütezeit der ehelichen Kernfamilie. Seit Ende der 1960er-Jahre setzte dann eine Pluralisierung der Lebensformen und eine Individualisierung der Lebensführung ein. Eine Pandemie konfrontiert sie mit neuen, nie dagewesenen Ängsten, Nöten und Konflikten.
Verwandte verlieren an Bedeutung

„Ich bin es gewohnt, mit krisenhaften Prozessen umzugehen“, sagt Peter Thiel, Familientherapeut aus Bad Reichenhall. Ihn scheinen die langanhaltenden Coronaauswüchse nicht sonderlich zu beunruhigen. Gerade so wie ein Seemann, der sich über seinen 50. Sturm auch nicht groß wundere, komme er sich vor, so Thiel. Thiel bezeichnet seine Arbeitsweise, als er lösungsorientiert, systemisch und wertschätzend. Wenn man ihm zuhört, hat man das Gefühl, es gebe für alles eine Lösung, zumindest keinen Grund zur Beunruhigung.
Die Verwandtschaft als vormals mächtige soziale Instanz hat ab Mitte des 19. Jahrhunderts stark an Bedeutung innerhalb familiärer Strukturen eingebüßt. Der Einfluss von Großeltern, Tanten und Schwiegereltern als Kontroll- und Entscheidungsträger war in den letzten Jahrzehnten stark rückläufig. Doch den familiären Freiheitskämpfen folgte nicht selten die baldige Ernüchterung.
„Die Freiheitsoptionen sind insgesamt wesentlich größer, damit aber auch die Verantwortung, die man selber für sein Glück oder Unglück trägt“, so Thiel. Freiheit müsse jedoch auch genutzt werden, sonst ende das Ganze in Orientierungslosigkeit und Depression.
Parallel zum rückläufigen Einfluss verwandtschaftlicher Bindungen trat mehr und mehr die institutionelle Gebundenheit auf den Plan. Heute sind an die Stelle der Verwandten Vereine, Kitas, Schulen, die Sozialversicherung, die Kindergeldkasse oder caritative Einrichtungen getreten. Hier werden zentrale Abläufe im Familienalltag delegiert und umverteilt, Hilfeleistungen auf formaler Ebene in Anspruch genommen. Auch die digitalen Möglichkeiten zählen dazu.
Vor allem junge Leute hegen den Wunsch nach Geborgenheit
Nicht zu hoch bewerten solle man die neuen Möglichkeiten, so Thiel. „Die Familie ist keine Firma, wo man in Unterhose im Homeoffice sitzen kann, sondern ein lebendiger Begegnungs- und Konfliktraum, den es zu gestalten gilt.“ Und im Moment, wo viele der sonst verlässlichen Stützen der Familie den Dienst versagen, wird sie auf sich selbst zurückgeworfen. Jetzt ist sie gefordert ihren Begegnungsraum neu zu gestalten. Ergebnisse aktueller Umfragen zeigen, wie sehr Eltern sich durch das Homeschooling unter Druck fühlen. Fallen Schüler hinten runter, wenn sie ihre Aufgaben am PC mal nicht erledigen? Gibt es nichts Wichtigeres als die Trockenübungen einer auf Lerninhalte fixierten Lehrerschaft?
Durch die Schließung von Schulen und Kitas wurde die Betreuung und Ausbildung von Kindern komplett ins Private verlagert. Andererseits wünscht sich fast die Hälfte der Eltern mehr Zeit für die Familie. Vor allem Väter plagen Gewissensbisse. Weniger als ein Drittel findet, sie könnten sich ausreichend mit Frau und Kindern beschäftigen. Erwachsen unter den jetzigen Voraussetzungen mit etwas erzieherischer Kreativität und sozialem Gestaltungswillen nicht auch Chancen für die Belebung familiären Zusammenhalts?

„Jedes Thema ist wichtig“, lässt sich eine sanfte Stimme aus dem Kümmerfon der Caritas vernehmen. Hier holen sich Eltern, Kinder und Jugendliche regelmäßig Rat, wenn´s daheim mal nicht so läuft. Denn gerade für Kinder und Jugendliche hat die Familie einen hohen Stellenwert. Sie ist für 61 Prozent der Befragten das Wichtigste im Leben.

Einen Partner oder eine Partnerin zu haben, dem oder der man vertrauen kann, außerdem gute Freunde, die einen anerkennen, und ein gutes Familienleben sind für junge Menschen Werte, die sie anstreben. Die junge Generation in Deutschland ist pragmatisch, auf Sicherheit bedacht, sucht Geborgenheit in der Familie, hegt Werte wie Toleranz, Freiheit und Vielfalt. Sie zeigt wachsendes Interesse an Politik und möchte die Gesellschaft mitgestalten. Dieser Trend zeigt sich bei allen großen Jugendstudien der vergangenen zwei Jahre. Um die Ziele zu erreichen, sollten wir Erwachsenen ihnen ein Stück weit unter die Arme greifen.

Johannes Vesper